6. Mai 2022

enlightening the parliament

Grußwort von HBK-Präsidentin Prof. Dr. Dorothea Hilliger zur Eröffnungveranstaltung des Kunstprojekts "enlightening the parliament – Ein Kunstprojekt mit Demokrat*innen anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Niedersächsischen Landtages" am 6. Mai 2022.

Zu der Veranstaltungsankündigung

Sehr geehrter Vizepräsident des Niedersächsischen Landtages, Herr Möhle, liebe Studentinnen und Studenten, lieber Martin Krenn, liebe Gäste, die sie sich heute hier versammelt haben!

Als Präsidentin der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig möchte ich Sie zu dieser künstlerischen Arbeit aus der Kunstvermittlung der Hochschule ganz herzlich begrüßen!

enlightening the parliament – Ein Kunstprojekt mit Demokrat*innen anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Niedersächsischen Landtages.

Welch ein Anlass! Welch ein Geschenk! Welch eine Freude, hier sprechen zu können!

Schon der Titel des Projektes, enlightening the parliament,  lässt dessen Komplexität erahnen. Die begriffliche Verbindung von Kunstprojekt, Demokrat*innen und Landtag macht einen Kosmos an Assoziationen auf.

Ich werde mich aber in der Würdigung dieses Anlasses und der künstlerischen Arbeit nicht hieran, sondern an den Fragen orientieren, die die Studierenden zur Ankündigung ihres Projektes ausgewählt haben.

„Muss die Demokratie radikalisiert werden?“

Dies ist nicht allein die Frage von sich immer in Grenzbereichen aufhaltenden Künstler*innen. Es ist eine politische Frage, der ganze Denktraditionen nachgegangen sind.  Aktuelle Vertreter*innen radikaler Demokratietheorien eint der Gedanke, wie wichtig Dissens und Widerstreit sind. Sie heben auf die Unterbrechung im Gewohnten – und auf die Bedeutung von Institutionen ab, die einen Rahmen für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte bereitstellen müssen.Wie hervorstechende Vertreterinnen dieser Theorien formulieren, muss in einer Demokratie der Streit um Positionen sichtbar sein und offen ausgetragen werden. Angesichts immer neuer Empörungswellen in den sozialen und auch anderen Medien mag diese Forderung als übererfüllt erscheinen. Das aber ist es nicht, was radikale Demokratietheorien meinen. Vielmehr ist deren Grundgedanke: „Es könnte immer auch anders sein“.Dies soll auch Mithilfe von Institutionen, die wir ja eher als schwerfällig gewohnt sind zu begreifen, ermöglicht werden. Als Leiterin einer Kunsthochschule weiß ich, wie wichtig dieser Gedanke ist – und wie schwer zu realisieren.

Es ist und bleibt aber eine politische Aufgabe, entsprechende Verfahrensweisen und institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen. Der Dissens muss als Motor für Entwicklung in einer pluralistischen Gesellschaft so kanalisiert werden, dass Konflikte innerhalb der demokratischen Ordnung ausgetragen werden. Wir erleben gerade an verschiedenen Orten der Welt wie bitter und folgenreich es ist, wenn stattdessen einseitig machtpolitisch gehandelt wird.

Was nun hat die Kunst mit radikalen Demokratietheorien zu tun? Was hat sie hier an diesem Ort zu suchen?

Wenn von einem „Kunstprojekt mit Demokrat:innen anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Niedersächsischen Landtages“ gesprochen wird, adressiert dies Künstler*innen, Abgeordnete des Landtages und Passant*innen, deren Demokratieverständnis in egalitärer Weise in die Installation aufgenommen wird.

Nicht zuletzt wird hier aber auch die Institution des Landtags selbst adressiert - indem dessen Inneres buchstäblich nach außen gekehrt wird. Es wird aufmerksam gemacht auf die Bedeutung der Institution, auf ihre Vertreterinnen und Vertreter, auf politische Fragen und deren Verhandlung. Es ist die Demokratie selbst mit ihren Defiziten, Möglichkeiten wie Notwendigkeiten, die hier auf künstlerischem Weg an uns herangetragen wird.

Kunst zeigt nicht Lösungswege für politische Denkansätze auf, sie lässt sich auch nicht vor den Karren von Einzelinteressen spannen, egal ob diese politisch, ökonomisch oder anders motiviert sind. Es bleibt eine politische Aufgabe, Rahmenbedingungen und Lösungswege für komplexe gesellschaftliche Aufgaben zu (er-)finden.

Beides nimmt die Installation in ihrer Anlage auf: Den Verweis auf die Existenz ganz unterschiedlicher Stimmen, auf deren Bedeutung, auf die Notwendigkeit von Konflikt, Streit – und neu zu findenden Wegen und Lösungen – und sie fordert die Institution und uns geradezu auf, sich dazu zu verhalten.

 

Die Studierenden fragen auch: „Auf welche Weise sind Bürger:innen an politischen Prozessen beteiligt?“  

Sie selbst gehen den entscheidenden Schritt hin zur Beteiligung, indem sie Fragen stellenund Antworten aufnehmen. Sie haben Videostatements von Bürger:innenräten, engagierten Bürger:innen der Zivilgesellschaft und Abgeordneten des Landtages eingeholt. Sie gehen aber noch einen Schritt weiter, indem sie die Wahrnehmung selbst zum Thema machen – und vor dem Landtag eine Klanginstallation installieren.

 

Beteiligung zeigt aber nicht nur die Anlage des Kunstprojektes. Beteiligung ist auch integraler Bestandteil von dessen Erarbeitung. Aus eigener Erfahrung weiß ich sehr wohl, wie viel gelebte Demokratie eine kollektive künstlerische Arbeit braucht – wie streitbar wichtige Entscheidungen hier ausgetragen werden können – und müssen – und wie viel Einsatz ein solches Projekt benötigt. Hierfür sei den Studierenden und insbesondere auch Prof. Martin Krenn gedankt sowie all denen, die technisch, organisatorisch, finanziell, im Mitdenken und Mittun diese Arbeit ermöglicht haben. Alle, die an einer solchen kollektiven Arbeit aktiv beteiligt sind, sind Mitdenkende und in der Kunst Handelnde. Ganz besonders danke ich hierfür Ingo Schulz und Rolf Pilarsky.

Das Projekt selbst stellt in seiner Anlage die Frage, was Kunst kann. Die Studierenden benennen sie explizit: Welche Funktion erfüllt die Kunst in der Demokratie?

Einen Aspekt möchte ich zu allem, was hierzu schon gesagt wurde, noch erwähnen:

Diese Kunst an diesem Ort erfüllt die Funktion der Unterbrechung. Das tut Kunst in gewisser Weise immer. Wir unterbrechen unseren Alltag, wenn wir in ein Museum, ein Theater, ein Konzerthaus gehen.

Hier, an diesem Ort, irritiert sie, macht uns aufmerksam auf das, was wir auf unseren immer schneller werdenden Wegen möglicherweise übersehen. Die Unterbrechung im Alltagsgeschehen wird hier als Irritation sichtbar, die alleine schon das Anhalten, das Hören und Sehen, das Stehenbleiben, das Gespräch mit sich bringt,

Die Unterbrechung, das Anhalten, die Wahrnehmung von Kunst selbst wird zu einer öffentlich sichtbaren Handlung und gibt dem Ort – wie auch der künstlerischen Arbeit – eine neue Bedeutung.

Die Kunst, die hier gezeigt wird, wird im Prozess ihrer Wahrnehmung sozial und politisch bedeutsam. Dabei lässt sie sich in ihrer Komplexität nicht vereinnahmen, wird nicht zu sozialer oder politischer Kunst im engeren Sinne, sondern behauptet ihren Eigensinn. Wir müssen unsere Schlüsse daraus ziehen.

In diesem Sinne zeigt die Arbeit auch ein Stück HBK – und dafür möchte ich mich als Präsidentin auch persönlich bedanken.

Das Projekt ist ein Kunstvermittlungsprojekt. Als solches erfüllt es auch die Funktion der Heranführung – und Aneignung von künstlerischem Denken, Handeln, Entwerfen und Experimentieren – und dies, wie man sieht, auch im Kontext sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung.

Wir brauchen eigensinnige Künstlerinnen und Künstler. Wir brauchen solche, die sich in ihrem künstlerischen Eigensinn auf den komplexen und durchaus komplizierten Weg machen, Kunst auch im Zusammenspiel mit anderen zu entwickeln. Wir brauchen solche, die sich im Zusammendenken und -arbeiten auch auf andere soziale Felder wie Ökonomie, Bildung, Familie oder hier eben Politik beziehen.

In der Verflechtung, die sie selbst herstellt, hat Kunst wesentlichen Anteil an der Entwicklung kultureller und politischer Praktiken, Denkmöglichkeiten, Selbstverständnissen – und an Veränderung.

Nehmen Sie diese wichtigen Impulse auf!

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

1 Vgl. Bröckling/Feustel 2012:8

Mouffe 2015:26