Raimund Kummer: KUMMER WEINT / SCHLIESS DIE VERDAMMTEN EISFACH!

Grußwort von Präsidentin Prof. Dr. Dorothea Hilliger anlässlich der Eröffnung der Doppelausstellung von Raimund Kummer, Professor für Bildhauerei an der HBK Braunschweig am 26. April 2022.

 

Liebe Gäste, liebe Angehörige der HBK, liebe Besucher*innen der Ausstellung, lieber Raimund!

Es ist mir eine große Freude, dass ich Sie heute als geschäftsführende Präsidentin der Hochschule zu dieser sehr besonderen Ausstellung begrüßen darf!

 „Kummer weint“ und „Schließ die verdammten Eisfach!“ an den zwei für die Präsentation künstlerischer Arbeiten wichtigen Orten der HBK, der Hochschulgalerie und der Montagehalle, ist ein Geschenk, welches Raimund Kummer der Hochschule zu seinem Abschied als Professor für Bildhauerei macht – und wir nehmen es gerne entgegen. Kummer reflektiert in und mit dieser Ausstellung auf sein künstlerisches Werk, insbesondere, aber nicht nur auf dessen Anfänge – und er setzt sich dabei auch mit sich selbst als Künstler auseinander. Diese reflektierte, künstlerisch durchgearbeitete Auseinandersetzung mit der eigenen, ihn als Bildhauer erst begründenden Biografie, macht die Ausstellung in zahlreichen Details wie auch in der gesamten Anlage sichtbar. Dies ist eine mögliche Lesart, vor allem des fotografischen Werks in der Montagehalle, die ich in diesem Grußwort fokussieren möchte. Es gibt selbstverständlich auch andere Formen, sich der Ausstellung in ihren beiden Teilen zu nähern. Das bleibt – und das macht nicht zuletzt die Qualität der Ausstellung aus - dem individuellen Blick vorbehalten, den Sie gleich auf das Werk richten können.

Die beiden Ausstellungteile, so komplex und divergierend sie sind, sind tatsächlich als ein eigenes Werk Kummers zu begreifen, in dessen Entstehung eine ganze Reihe anderer Menschen involviert gewesen ist. Auch er ist in und mit diesen Zusammenarbeiten beschenkt worden. Das macht nicht nur die Dankesliste im Katalog, sondern auch der darin anklingende Tenor mehr als deutlich.

Damit bin ich schon mitten in meinem zentralen Thema: Auf welches Verständnis von sich selbst als Künstler reflektiert die Ausstellung?

Ich zitiere zunächst den Intendanten des Kunstmuseums Bonn, Stephan Berg, bevor ich zu meinem eher von der HBK, der Ausstellung hier und einem auch persönlich geprägten Blick komme.

Im Katalog zur retrospektiven Werkschau von Raimund Kummer For Your Eyes Only im Jahr 2009 im Kunstmuseum Bonn schreibt Stephan Berg über den Künstler, dass „dessen Werk seine systematische Bedeutung im Rahmen der Auflösung des klassischen Objekt- und Skulpturbegriffs seit den 60er Jahren [...] entfaltet. Seine in den späten 70er Jahren begonnene, […]  Vermessung des öffentlichen, urbanen Raumes im Hinblick auf dessen eigene skulpturale Qualitäten“ stelle ein „grundlegend anderes Verständnis bildhauerischer Arbeit dar“. Dieses gehe „deutlich über räumliche Verortung, Ortsspezifik oder Ortssensibilität hinaus und zielt stattdessen auf die Herstellung eines situativen Kontextes, in dem sich Werk, Betrachter und Ort in einer ‚heißen‘ temporären Ereignislogik miteinander verknüpfen.“1

Wo Raimund Kummer arbeitet, da arbeitet er mit und für den öffentlichen Raum und den situativen Kontext. Wenn er also an einer Kunsthochschule lehrt, wird dieser öffentliche Raum der Kunst und diese spezifische soziale Einheit auf ganz selbstverständliche Weise zum Teil seines Werks.

Kummers Selbstverständnis als Künstler ist auch davon getragen, an einer Kunsthochschule zu lehren. Auch hiervon legt die Ausstellung Zeugnis ab, indem sie die letzte einer Reihe ist, die im Verlauf seiner Zeit als Professor an der HBK entstanden ist. Raimund forscht vor Ort, entwickelt Arbeiten auch in seinem Dienstatelier und zeigt sie hier.

Dies verdeutlicht nicht nur seine Identifikation mit der HBK und seinen Aufgaben hier, sondern ebenso sein Verständnis von einer Kunsthochschule als einem lebendigen Ort der Kunst.

Die Ausstellung zeigt beispielhaft auch einen Gestaltungswillen, der sich umfassend auf die Hochschule als einem Ort von Entwicklung, Produktion und Kommunikation von Kunst bezieht, so auch auf räumliche Gegebenheiten wie die Hochschulgalerie und die Montagehalle, die jetzt diese Ausstellung beherbergen. Beide sind von der ‚kummerschen‘ Handschrift geprägt.

Auch was die Struktur der HBK als Kunsthochschule angeht hat Raimund immer eine Position, oftmals auch strittig, aber wenn man gute Argumente hat und vor manchmal auch lautstarken Auseinandersetzungen nicht zurückschreckt, dann hat man gute Chancen auf beiderseits erweiterte Blickwinkel. Dies nur am Rande.

R.K. identifiziert sich als Künstler mit der Hochschule, an der er lehrt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an seiner hohen Präsenz vor Ort, womit ich wieder zu der Ausstellung zurückkehre, die heute eröffnet wird.

Die Ausstellung ist, wie Raimund es formuliert, „ortsspezifisch“. Sie setzt radikal auf ihn selbst als ein Fallbeispiel für einen jungen Künstler, der „versucht, etwas auf die Reihe zu bekommen“. In seinem Fall hieß dies, in Kommunikation zu gehen mit verschiedenen, von ihm als bemerkenswert identifizierten Phänomenen außerhalb seiner selbst – und diese so zu verwandeln, dass sie auch für andere sichtbar und erfahrbar werden.

Es ist ein Prozess der Selbstvergewisserung und der zunehmenden Öffnung zur Welt. Die Ausstellung macht es möglich, diesem Weg ein Stück weit zu folgen. Kummer schätzt die Ausstellung selbst als radikal, vielleicht sogar als rücksichtslos ein, weil er sich erlaubt, „biografisch zu sein“. Das mag so sein, hat aber auf alle Fälle noch eine andere Komponente. Um diese deutlich zu machen, hole ich ein wenig aus:

Raimund, ich nehme an, ich interpretiere dich, unser Gespräch und die Ausstellung nicht verkehrt, wenn ich sage, dass auch dir in gewisser Weise die Kunst und insbesondere die Bildhauerei, so wie du sie verstehst und in deinem Werk entwickelt hast, eine ganz spezifische Öffnung zur Welt ermöglicht hat – und noch ermöglicht. Eine Arbeit, die sinnlich ist, körperlich – und Reflexion verlangt. Die breit angelegt ist, Allrounderqualitäten voraussetzt und die Fähigkeit zur Improvisation. Dabei „realitätsnah, pragmatisch, lösungsorientiert“, sagt Kummer, schon alleine deshalb, „weil die Dinge durch die Tür müssen.“

Die sehr breit angelegte Öffnung hin zur Welt, der tastende, aber auch zunehmend umfassende künstlerische Zugriff auf Welt, den die Ausstellung zeigt, ist auch das, worauf Kummer in der Lehre setzt: Studierenden in ihrer Arbeit neben sehr spezifischem Können auch einen weltöffnenden Dilettantismus zu ermöglichen – und mit auf ihren weiteren Weg zu geben. Mit der Ausstellung macht er sich, auch das ist ein Aspekt, der sichtbar werden kann, als sich selbst reflektierendes Künstlersubjekt zu einem mögliche Lernobjekt für Studierende.

Ich habe mit Raimund Kummer in Vorbereitung dieser Eröffnung ein langes, für mich in vielerlei Hinsicht erhellendes Gespräch geführt. Eine Aussage allerdings blieb zunächst sehr im Dunkeln:

In erheblichem Widerspruch zu allem, was ich in den Jahren an der Hochschule mit Raimund in den verschiedensten institutionellen Kontexten erlebt habe und was ich in der Ausstellung sehe, stand Raimunds Verweis auf die Heinzelmännchen von Köln, von denen das Märchen sagt, dass sie nachts kamen und unerkannt alle anfallenden Arbeiten erledigten:

Für alle, die es nicht erinnern, ein kurzer Auszug aus dem

(Gedicht von August Kopisch, 1836)

Wie war zu Cölln es doch vordem,
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul: …. man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
Ehe man’s gedacht,

Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften
Und zupften
Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten …..
Und eh ein Faulpelz noch erwacht, …
War all sein Tagewerk ….. bereits gemacht!

Dies von Raimund als eine Vision für sein Atelier? Er kommt morgens herein – und alle Arbeit ist getan?  

Dies von einem derart umtriebigen, aktiven Menschen? Das schien mir auf den ersten Blick unpassend und komplett unverständlich.  

Ich hatte seither ein wenig Zeit nachzudenken und diesen Verweis in ein Verhältnis mit anderen Aussagen zu setzen. Ich wage den Versuch einer Interpretation, Raimund, du sprichst ja noch nach mir und hast die Möglichkeit der Korrektur!

Die Vorstellung morgens ins Atelier zu kommen und die Arbeit ist getan, hat, so meine ich, mit dem Verhältnis von Innenraum und Außenraum, von Atelier und anderen Lebensräumen zu tun und mit der Frage, in welches Verhältnis zueinander diese gesetzt werden. Wie bereichern sie sich gegenseitig? Wer setzt hier Arbeit ein und was tut sich möglicherweise von alleine?

Raimund ist durch eine Frustration, vielleicht sogar Verzweiflung „Kummer weint“ zur Bildhauerei gekommen. Begonnen hat er im Medium der Malerei und ist dort nicht zuletzt aufgrund der von ihm so wahrgenommenen Isolation im Atelier nicht weitergekommen.

Es ist die Entdeckung der Stadt, die den Ausgangspunkt für die Entwicklung seines bildhauerischen Werkes und seines Verständnisses von bildhauerischer Produktion geprägt hat, ganz sicher nicht zuletzt durch seine Studienaufenthalte in New York und die Jahre im Experimentierfeld des alten Westberlins vor dem Mauerfall mit seinen Brachen, Leerständen, die künstlerisch immer wieder neu angeeignet werden konnten.

Hier war die Überwindung der Sprachlosigkeit, waren künstlerische Zusammenarbeiten in einem fast anarchischen Raum möglich. Hier konnten die Produktionsbedingungen von Kunst, speziell von Bildhauerei erforscht, erprobt, diskutiert, entwickelt werden (Künstlergruppe Büro Berlin). Es gab auch weiterhin ein Atelier, aber es war auch der Stadtraum selbst, der zum Atelier wurde. Verschiedene Titel aus der Ausstellung wie „Arbeiten in offenen Situationen“(Katalog S. 133) oder „Ausweitung der Kampfzone“ (Katalog S. 136) machen das deutlich, so auch die fotografisch dokumentierte Arbeit „Pissrinne – Feuerwerkskonzert“. Diese letztgenannte Arbeit, in der Feuerwerkskörper in einem Fußgängertunnel unter dem Görlitzer Bahnhof an kubanischen Zigarren entzündet wurden, brachten Kummer dann allerdings eine kurzzeitige Verhaftung ein – ganz so anarchisch war denn auch Westberlin nicht.

Es sind diese über die Jahre gewonnenen vielfältigen Erfahrungen, erprobten Praxisformen, es ist die Dokumentation von Arbeiten, es sind die künstlerisch fokussierten Sichtweisen auf Phänomene von Stadt, es ist die fotografische Entdeckung von Blickwinkeln – dies sind die Anreicherungen – auch für das Atelier.

Was ich aus Kummers Bemerkung über die Heinzelmännchen von Köln lese, von seinem Wunsch, ins Atelier zu kommen, und die Arbeit ist gemacht, ist nicht, dass die Arbeit tatsächlich von anderen erledigt wird.

Schauen Sie sich die Details der Ausstellung an, lesen Sie im Katalog, und Sie werden sehen, da ist nichts dem Zufall oder der Entscheidung anderer überlassen.

Es ist vielmehr die Vorstellung, dass sich aus verschiedenen Recherchen, Beobachtungen, Erprobungen außerhalb des Ateliers Verdichtungen und wiederum neue Blickwinkel ergeben – die – auch ohne aktives Zutun –weiterarbeiten. Tatsächlich wird in der heute zu eröffnenden Ausstellung die Recherche, die Anreicherung und Verdichtung ebenso sichtbar wie die auch dadurch gewonnene Möglichkeit, Jahre später neue Arbeiten zu begründen.  

Die Passage zwischen dem Innenraum Atelier und dem Außenraum Stadt ist in Kummers Arbeiten die Fotografie, das werden Sie sehen.

(Kummer macht die Passage der Fotografie selbst künstlerisch sichtbar in der Arbeit „Böckhstrasse, Treppenhaus“ (Katalog ab S. 120) )

Ich verstehe Kummer so, dass er den Ort des Ateliers als einen Raum der Anreicherung von künstlerischem Material, aber auch von künstlerischer Selbstreflexion und -beobachtung so nutzen können möchte, dass sich Dinge darin wie von selbst ergeben. Er spricht vom Atelier als einer „entspannt in Betrieb gehaltenen Maschine, die Kunst produziert“. Nicht ohne Zutun des Künstlers, der sehr wohl entscheiden muss, wann eingreifendes Gestalten notwendig ist.

Das Atelier in diesem Sinne als eigenständigen, lebendigen Körper zu begreifen ist auch das, was Kummer mit seinem Engagement an der HBK seinen Studentinnen und Studenten vermitteln möchte.

Raimund, für die Zeit nach deiner Arbeit und Lehre an der HBK wünsche ich dir, dass du auch dem Fortgang deines Lebens so entspannt zuschauen kannst, weißt, wann du dich im Fluss der Ereignisse badest und wann du gestaltend eingreifst. Bis dahin wirst du uns noch ein bisschen beschäftigen, ich freue mich darauf!

Vielen Dank, Raimund, für die Ausstellung!

Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Stephan Berg: „Das Begehren des Blickes“, in: Raimund Kummer. For Your Eyes Only. Werke 1978-2009, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn, Bielefeld / Leipzig 2009, S. 372–377, hier S. 372.