Interview mit Prof. Gerhard Glatzel zum „Citizen Science Lab“ mit dem Thema Lebensmittelverschwendung in der Region

SPOON* ist ein 4-jähriges Forschungs- und Innovationsprojekt (2024 bis 2028) aus dem EU-Rahmenprogramm Horizont Europa** für Forschung und Entwicklung, das mit 16 europäischen Partnern*** zusammenarbeitet.
Es zielt darauf ab, den Wandel hin zu fairen, nachhaltigen und sozial-fokussierten Lebensmittelsystemen durch die Aussagekraft von Citizen-Science-Daten (diese beziehen die Öffentlichkeit in Aufgaben ein, die zur Datenerhebung, Datenanalyse und zum wissenschaftlichen Prozess beitragen) zu untersuchen. In sechs europäischen Städten – eines davon in Braunschweig unter der Leitung des Instituts für Designforschung der HBK Braunschweig – befinden sich dafür Citizen-Science-Labs (CSL).
Das CSL in Braunschweig wird Bürger*innen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Demografie sowie Akteure des Ernährungssystems zusammenbringen. Ziel ist, durch den Einsatz verschiedener Kunstformate und wissenschaftlicher Methoden eine Transformation hin zur Ressourcenschonung in der Lebensmittelversorgung zu erreichen.
Der erste Schritt für das Team der HBK besteht aus dem Aufbau eines Citizen-Science-Lab zusammen mit bereits arbeitenden Gruppen in Braunschweig und der Erfassung und Auswertung der aktuellen Situation. Das CSL wird zunächst wichtige Daten sammeln und auswerten. Auf der Grundlage der Daten über das Lebensmittelsystem werden das CSL und das SPOON – Team kontextspezifische Maßnahmen zur Förderung von Verhaltensänderungen entwickelt. Die Gruppe wird z.B. das Verhalten im Zusammenhang mit Verfallsdaten analysieren und beobachten.
***SPOON Food Systems in transition (ParticipatOry, Open citizen research for sustainable Nutrition) HORIZON-CL&-2024-FARM2FORK-01-06 zielt darauf ab, die Bürger*innen zu verstehen und in die Lage zu versetzen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Sie werden ermutigt Daten über ihr Ernährungsverhalten zu teilen, Gemeinschaftsdaten zu co-analysieren und mit Gruppen zusammenzuarbeiten, um kontextspezifische Maßnahmen zur Förderung von Verhaltensänderungen entwickeln zu können.
** Horizont Europa hat das Ziel eine wissens- und innovationsgestützte Gesellschaft und wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen und zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Es ist in drei Programmsäulen (Wissenschaftsexzellenz, Industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas, Innovatives Europa) sowie den Förderbereich Ausweitung der Beteiligung und Stärkung des Europäischen Forschungsraums strukturiert.
***16 europäische Partner: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, PNO Innovation SL, Eigen Vermögen Van Het Instituut Voor Landbouw- En VISSERIJONDERZOEK, Austrian Institute of Technology GMBH, Science For Change SL, Incommon Non-Profit Civil Law Company, Inovacijsko Tehnoloski Grozd Murska Sobota, Hot or Cool Institute GGMBH, Fundacion De La Comunitat Valenciana Para La Promocion Estrategica El Desarrollo Y La Innovacion Urbana, Jibe Company BV, Fondazione Icons, Comune Di Torino, Stadmakers VZW – De Republiek, Rete Delle Case Del Quartiere Ets, Dimos Thessalonikis
Mit Prof. Gerhard Glatzel haben wir gesprochen. In einem Interview gibt er Einblicke in das Forschungs- und Innovationsprojekt und beschreibt, was er mit seinem Team in der Projektlaufzeit plant.
„Drei Fragen“ an Prof. Gerhard Glatzel:
Die HBK soll eines von sechs Citizen Science Labs (CSL) entwickeln, das sich speziell mit lokalen Herausforderungen zum Thema Lebensmittelverschwendung befasst. Welchem Rahmen folgt dieses Projekt und wie könnte es beispielhaft in die Region hineinwirken?
Wir bauen in der Region Braunschweig ein CSL zur nachhaltigen Lebensmittelnutzung auf. Unser CSL-Projekt ist in das mit EU-Mitteln geförderte Projekt SPOON eingebettet. Der volle Titel lautet „Food Systems in transition ParticipatOry, Open citizen research for sustainable Nutrition“ was so viel bedeutet wie „Partizipative, offene Bürgerforschung für nachhaltige Ernährung“ und ist erfreulicherweise einprägsam abgekürzt. Das Projekt haben wir im Dezember 2024 im Verbund mit 15 weiteren Forschungspartnern aus sechs europäischen Ländern begonnen.

Aktuell im Projekt beschäftigt sind der künstlerische Mitarbeiter Samuel Zonon und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Françoise Beaussant.
Neben dem offensichtlichen Ziel bauen wir mit diesem EU-geförderten Projekt regional und europaweit die Teilhabe von Bürgern an gesellschaftlichen Prozessen aus. Wir sehen in der Selbstermächtigung Aller eine wichtige Maßnahme zur Stärkung unserer Demokratie.
Es sind noch weitere CSL in anderen Städten geplant. Welche Schwerpunkte verfolgen diese und welche weiteren Unterstützer gibt es für das gesamte Projekt?
Alle Partner in SPOON arbeiten gemeinsam mit verschiedenen Ansätzen daran, wie in Europa Lebensmittel nachhaltig erzeugt und genutzt werden können. Die anderen 5 CSLs haben jeweils eigene, lokal ausgerichtete Schwerpunkte. Die CSLs werden mit ihren Partnern Lösungen für die jeweiligen Herausforderungen finden und Ihre spezifischen Methoden und Lösungen mit den anderen CSLs teilen. Sie tragen damit zu einem Gesamtbild bei und erweitern den Wissensschatz Aller. Durch die mit SPOON einhergehende intensive Kommunikation hier in Braunschweig und europaweit bauen wir wichtige Netzwerke, die über die Projektlaufzeit hinausreichen sollen.
Das Projekt wird bis Ende 2028 laufen und bietet damit viel Raum, Ergebnisse auszuwerten, neue Ideen zu generieren und diese wiederum zu testen und umzusetzen und insbesondere von den beteiligten Partnern zu lernen.
Was bildete die Grundlage für die Entwicklung des Projekts, wie wirkt es in die Lehre mit den Studierenden hinein und gibt es ähnlich gelagerte Projekte im Transformation Design?
Den Ausgangspunkt unseres eigenen Antrags innerhalb von SPOON bildeten Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem vorherigen Projekt Energy4Agri. An das Projekt werden wir methodisch anknüpfen und wie zuvor mit Praxispartnern in der Region Braunschweig zusammenarbeiten. Dazu haben wir bereits in der Antragsphase Kontakte aufgebaut, die wir nun vertiefen.
Für uns bedeuten Projekte wie SPOON, unser Fach Designforschung weiterzuentwickeln und unsere Lehre aktuell zu halten. Unsere Studierenden können mit eigenen Projekten und Abschlussarbeiten unsere Forschungsergebnisse nutzen und eigene Forschungsfragen stellen. Das CSL wollen wir verstetigen, es soll auch nach dem Abschluss von SPOON weiterlaufen und gute Antworten auf komplexe Fragen finden.
In allen unseren Design - Projekten geht es letztlich darum, in einer realen Umgebung Transformationsprozesse zu initiieren und weiterzuentwickeln. Ausgangspunkte sind Varianten der von Wolfgang Jonas (eh. HBK-Prof. für Designwissenschaft) aus der Systemtheorie entwickelten Designtheorie, die wir an komplexen Problemen testen. In recht unterschiedlichen Projekten hat sich unsere Theorie als sehr praxistauglich erwiesen.
Komplexe Probleme zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie nicht zu vereinfachen sind. Übliche Ansätze einer Aufteilung in kleinere und damit leicht lösbare Aufgaben funktionieren nicht. Unser Lösungsweg besteht darin, ein ebenfalls komplexes Lösungssystem aufzubauen. Das sieht erst einmal nach einer blöden Idee aus – jetzt hat man zwei widerborstige Systeme zu bearbeiten. Das Lösungssystem designen wir als Abbild des Problemsystems. Damit habe beide die gleichen eigentlich unangenehmen Eigenschaften, das Lösungssystem kennen wir allerdings und können darin Lösungen für das Problem entwickeln.
Die wichtigste Basis im Lösungssystem ist eine möglichst große fachliche Diversität eines multidisziplinären Teams. In mehreren Forschungsprojekten haben wir wirkungsvolle Methoden der Zusammenarbeit in den bunt gemischten Teams entwickelt. Im SPOON – Team arbeiten eine Soziologin und ein Absolvent der Meisterschülerklasse der HBK zusammen. Die Kombination unterschiedlicher Kulturen, Methoden und Sichtweisen der beteiligten Disziplinen lassen uns dabei neue Lösungswege finden.
Die HBK mit ihrer großen Bandbreite von künstlerischen und wissenschaftlichen Fächern ist eine wunderbare Ressource – und gleichermaßen auch eine große Herausforderung.
Dieses HBK-interne Spannungsfeld haben wir beispielsweise mit dem Projekt „POLYLOG“ ausgelotet.
In dem abgeschlossenen Projekt ScenAir2050 haben wir Methoden der Zukunftsforschung in unser Lösungsportfolio integriert.
Letztlich sind es funktionierende und belastbare menschliche Beziehungen, die ein Projekt zum Fliegen bringen.
Im transdisziplinären Forschungsprojekt Energy4Agri haben vier TU – Institute zusammen mit uns Wege zur energetischen Transformation der Landwirtschaft untersucht.

Energy4Agri wurde 2023 erfolgreich abgeschlossen. Zusätzlich zum Schlussbericht ist ein Handlungsempfehlungskatalog für eine Elektrifizierung der Landwirtschaft entstanden und veröffentlicht.
Das Interview führte Brigitte Kosch, Pressestelle der HBK Braunschweig